Kenngrößen, Definitionen, Risikoabschätzungen
Das ADI-Konzept
Die Toxikologie hat für die Bewertung von chronischen Schadstoffbelastungen ein vereinfachtes, standardisiertes Verfahren entwickelt, von dem ausgehend lebenslang duldbare Aufnahmemengen (DTA, ADI = Acceptable Daily Intake) abgeleitet werden. Diese sind Grundlage für die Bestimmung von Grenzwerten.
Das Konzept unterschätzt aber die Wirkschwellen systematisch, da es etliche Gebiete der Biologie unbeachtet lässt.
adaptiv, advers
sind die zentralen Kriterien, um eine Wirkung zu definieren: wörtlich heißt adaptiv anpassungsfähig und advers widrig, medizinisch ist meist reversibel, verkraftbar bzw. pathologisch gemeint. Adaptive Wirkungen sind etwa Verschiebung von physiologischen (biochemischen) Parametern innerhalb der Referenzwerte, manchmal als "Laborkrankheiten" bagatellisiert - damit wird ihre hinweisgebende Aussagekraft verkannt.
Adverse Wirkungen sind: Überschreitung der Referenzwerte, Organveränderungen, messbare Funktionsstörungen (Energieversorgung, Nervenfunktionen etc.).
Referenzwerte (Biomonitoring)
Referenzwerte für toxische innere Belastungen sind rein statistische Größen (95%-Perzentil). Dazu werden die Stichproben der Größe nach geordnet. Die Vorgabe ist, dass 95% aller Stichproben innerhalb des Referenzbereichs liegen sollen. Sie sind per definitionem ohne Aussagekraft hinsichtlich von Wirkungen. Für Xenobiotika, etwa Schwermetalle, die außer der toxischen keine andere Wirkung im Körper entfalten (im Gegensatz zu essentiellen Spurenelemente) gibt es eigentlich nur eine unbedenkliche Konzentration, und die lautet Null. Die Durchschnittskonzentration etwa von Quecksilber in der Bevölkerung rührt daher, dass 80% der Menschen Amalgamfüllungen tragen. Gerade der Streit darüber hat gezeigt, dass die Referenzwerte vor Erkrankungen nicht schützen. Darüber wissen wir, dass die Belastungen im Durchschnitt zu hoch sind. Auffällige Werte können Hinweise geben, unauffällige Werte schließen eine Wirkung keineswegs aus.
Referenzwerte (Effektmonitoring)
Referenzwerte biologischer Stati sind ebenfalls statistische Größen. Biologische Stati sind physiologische oder biochemische Werte, etwa die Konzentration von Kreatinin im Urin oder die Anzahl der roten Blutkörperchens im Blut oder die Aktivität eines bestimmten Enzyms in der Leber oder die Konzentration eines Neurotransmitters, etc. Über- oder Unterschreitung der Referenzwerte bezeichnen einen pathologischen Zustand.
Allerdings muss heute eingeräumt werden, dass die heute ermittelten Referenzwerte nicht mehr unbeeinflusst von unserer Umwelt sind.
Suszeptilität
Die Empfindlichkeit der Individuen gegenüber Toxinen variiert für alle Stoffe, sowohl akut- wie chronisch, stark. Eine Zehnerpotenz wird grundsätzlich in Ansatz gebracht. In der Literatur finden sich Hinweise, dass die Spreizung der individuelle Suszeptilität größer ist. Die Spreizung ist schon bei akuten Wirkschwellen groß und vergrößert sich bei der chronischen Wirkschwelle.
Dies wurde bisher kaum problematisiert. Erst mit der Erkenntnis, dass die Suszeptilität auch zeitlich nicht konstant ist und durch Blockade des Entgiftungsapparates oder chronisch-immunologische Dysfunktionen moduliert werden kann, wurde eine Debatte angestoßen.
Wirkschwellenmodulation
Eine solche Erhöhung der Suszeptilität bewirkt eine Absenkung der Wirkschwelle. Dies wird als Wirkschwellenmodulation bezeichnet.
Die MAK-Kommission führt eine Liste sensibilisierender Arbeitsstoffe.
MCS ist seit 1948 bekannt:
Stand der Wissenschaft in Sachen MCS
NOEL, NOAEL, LOAEL
Der No Observed Effect Level und der No Observed Adverse Effect Level stammen entweder aus einer Tierversuchsreihe oder einer statistischen Auswertung (Epidemiologie) oder gar aus Probantenversuchen (selten) und beizeichnen die Dosis, bei der kein Effekt mehr beobachtet wurde. Der NOEL steht für gar keinen Effekt, der NOAEL für keinen adversen Effekt.
Der Lowest Observed Adverse Effect Level bezeichnet schlicht die niedrigste Wirkdosis, die in der Literatur zu finden ist. Das UBA errechnet daraus mit einem Faktor 10 den NOAEL. Dies Verfahren ist äußerst pragmatisch. Allerdings ist die Alternative gar keine Bewertung und das bedeutet bei derzeitiger Rechtsprechung Unbedenklichkeit.
Ähnlich pragmatisch verfährt das UBA, wenn wohl ein NOEALsubchronisch, aber kein NOAELchronisch existiert.
Pragmatische Faustregeln (UBA 1993):
NOAEL = LOAEL/10
NOAELchronisch = NOAELsubchronisch/10
Empfindliche Personen
EPA und UBA nennen einen Faktor 10 zusätzlich für empfindliche Personen.
Der SRU nennt Kinder, alte Menschen, Schwangere und chronisch Kranke. Er vermerkt dazu, dass sich Risikoableitungen auf diese Risikogruppen beziehen müssen.
Diese Regel wird bisher kaum angewandt.
Wäre dies der Fall, lägen die Grenzwerte vielfach unter der durchschnittlichen Belastung, wie es bei den
VOC der Fall ist.
SRU
Sachverständigenrat für Umweltfragen, zur Unterrichtung der Bundesregierung.
MAK (max. Arbeitsplatzkonzentrationen)
Die MAK-Werte werden in der Regel aus epidemiologischen Erkenntnissen der Arbeitsmedizin festgelegt. Sie basieren demnach auf humantoxikologischen Daten. D. h. die Fehler des ADI-Konzeptes bei der Übertragung auf den Menschen sind in den MAK nicht enthalten
Dennoch lässt sich etwa bei den MAK zu organischen Lösungsmittel feststellen, dass sie einen Faktor 1000 (!)
zu hoch sind. Die wesentlichen Gründe sind, dass nur massive Reaktionen wie Kopfweh oder Ermattung ernst genommen wurden und die betrachteten Zeiträume wesentlich kürzer waren (etwa 8-h-Tag). Das ist aber aus der Sicht der Definition der toxischen Enzephalopathie eher Akut- als chronische Toxikologie.
Ein Vergleich zweier offizieller Werte für Toluol: MAK: 190 mg/m³, RWII: 300 µm/m³ - Unterschied einen Faktor 633.
Wirkungen ohne Wirkschwellen
Die Toxikologie kennt Wirkweisen, die keine Wirkschwelle aufweisen. Dies ist allgemein nur für die krebserzeugende Wirkung anerkannt.
Statt der Wirkschwelle wird eine virtuell sichere Dosis (VSD) zur Risikoanalyse herangezogen. Unter Verwendung des so genannten ‚unit risk’ der EPA wird die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Krebsfalles berechnet. Die virtuell sichere Dosis ist diejenige Dosis, die einen Krebsfall von 1: 1 Mio. unterschreitet. In Deutschland wird ein Risiko 1: 1000 akzeptiert.
In der MAK-Liste existiert seit Anfang der 90er Jahre eine Liste mit sensibilisierenden Arbeitsstoffe. Immunschädigende Stoffe können Allergien bewirken. Im Begleittext wird vermerkt, dass für die sensibilisierende Wirkung keine Wirkschwelle angegeben werden können.
Bei nervenschädigenden Stoffen steht fest, dass sie irreversible Schäden erzeugen. Auch sehr kleine Belastungen führen mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit zu einer toxischen Nervenschädigung. Es gibt also auch hier nur eine virtuell sichere Dosis und keine absolut sichere Dosis.
Übliche Risikoableitung, Prinzipien
Die Risikoanalyse muss sich mit der Frage auseinandersetzen: Was ist Sicherheit? 1 Sicherheit lässt sich nicht wissenschaftlich definieren. Es handelt sich dabei also um Vorkehrungen, die über das Berechenbare hinausgehen.
Kein Ingenieur würde eine Brücke bauen, genauso schwach wie sie die Berechnung der Statik möglich erscheinen lässt.
Hat man es mit einem Komplex von Daten zu tun, so wird man immer fordern, dass die Daten so zu wählen sind, dass man auf der sicheren Seite liegt. So etwas nennt man einen konservativen Ansatz. Fließen nun mehrere solche Ansätze zusammen, so kann man eine Häufung von Konservativitäten erhalten, die zwar laut Verwaltungsvorschrift für die Sicherheitsanalyse so vorgesehen sind, die dann aber keiner ernst nimmt. Beispiel: Hat man drei Größen, die durch Multiplikation mit einander verknüpft sind und bei jeder Größe einen Sicherheitsfaktor von 10 angesetzt, so bekommt man durch die Häufung von Konservativitäten einen Sicherheitsfaktor von 1000. Nach Gefühl wird das meist für übertrieben halten. Widerstand gibt es von den Kaufleuten. Realisiert wird dann eine verbleibende Sicherheit nach Bauchgefühl. Wie viel Tankerunfälle brauchte es, bis die Schiffe doppelwandig ausgeführt wurden.
Ganz ähnlich wird bei der Ableitung von Grenzwerten verfahren, ganz besonders dann, wenn man mit dem wissenschaftlich Berechenbaren gefährlich nahe dem Mittelwert kommt. Ein Beispiel: Ein Probantenversuch mit VOC-Gemischen hat ergeben, dass alle bei 5000 µg/m³ reagieren. Dies ist ein LOAEL. Nach UBA-Faustregel ergäbe sich ein NOAEL von 500 µg/m³. UBA und EPA verlangen für empfindliche Personen einen Faktor 10 als Sicherheit und der SRU verlangt, dass vorrangig auf Risikogruppen abzustellen ist – es ergäbe sich folglich ein Langzeitgrenzwert von 50 µg/m³. Der Mittelwert beträgt 400 µg/m³. Der gültige Langzeitgrenzwert gemäss Innenraumkommission ist 200 µg/m³ - und selbst der wird in der Praxis nicht ernst genommen, d.h. in keinem Verfahren ist er bisher konsequent zur Anwendung gekommen.
Für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends kann also festgehalten werden, immer dort, wo es ernst wird, werden alle Vorschriften und Bedenken der Sicherheits- und Risikoanalyse ignoriert.
Einfache Kausalität
Kausalität wird in dem hier gemeinten Sinn sprachlich nur von den Juristen so benutzt. Der juristische Begriff der Kausalität ist viel älter als der naturwissenschaftliche Begriff von Ursache und Wirkung aus der Aufklärung. Er ist immer eng verknüpft mit der Schuldfrage. Bei der gerichtlichen Klärung der Ursache einer Erkrankung etwa nach Anwendung von Pestiziden, geht es weniger darum, ob nach dem allerneuesten Stand des wissenschaftlichen Diskurses eine Dosis-Wirkungsbeziehung existiert, sondern ob der Verordnungsgeber bei der Anwendungsvorschrift oder den Grenzwerten das schon hat wissen können oder müssen. Es kommt also im Wesentlichen auf den anerkannten Stand der Wissenschaft an. Vielfach existiert auch ein solcher, wird aber in Deutschland weder von der einen noch von der anderen Seite in die Diskussion gebracht.
Allerdings gibt es beim Kausalitätsnachweis auch eine große Erleichterung. Es genügt nämlich die einfache Wahrscheinlichkeit: es spricht mehr dafür als dagegen. Im Falle, dass also kein anerkannter Stand der Wissenschaft zur Verfügung steht, bzw. dieser als überholt angesehen werden kann, ist es möglich, eine abwägende Literatursichtung anzustellen, die nur nach Maßgabe der einfachen Wahrscheinlichkeit zur Entscheidungsreife gebracht werden kann. Leider wird auch diese Möglichkeit viel zu selten genutzt (zu beachten ist allerdings (!): Eine solche Abwägung hat aber nur dann einen Sinn, wenn vorher die Exposition und auch der Schadenseintritt nachgewiesen ist, hier gibt es keine Erleichterung, hier muss der Vollbeweis angetreten werden).
Vertiefungen finden sich unter Toxikologie/Schadstoffe zu einzelnen umweltrelevanten Stoffen oder Stoffgruppen und unter Toxikologie/chronische Intoxikation zu den verschiedenen Ansätzen zur Bewertung realer Situation: komplexe Gemische im Niedrigdosisbereich über lange Zeiträume.
Download (kostenfrei):
ADI-Poster
"Gibt es unbedenkliche chronische Dosen?"
Arzt und Umwelt 1/1999