Wirkschwellen der Arbeits- und der Umweltmedizin
Den Unterschied kann man folgendermaßen definieren: Die Wirkschwellen der Arbeitsmedizin sind akut und advers (mindestens AU (arbeitsunfähig)), die der Umweltmedizin sind chronisch und entwickeln sich von Handicap zu Invalidität.
Hier findet sich noch ein drastischer Bezug zum Zeitfaktor.
Die Höhe der Wirkschwellen steht in einem engen Bezug zu der allgemeinen Vorstellung, was krank bedeutet, welche Symptome bzw. Symptommuster als krank angesehen werden. ADI als internationale Harmonie heißt auch international etablierte Verharmlosung. Er wird von der Schwelle zu adversen Reaktionen abgeleitet, nicht von biologischen Reaktionen überhaupt. Ein solches Nicht-Ernstnehmen von Symptomen treibt die Schwellwerte nach oben. Toxikologisch-medizinisch ist dies auch eine Frage, ob und inwieweit Wissenschaft überhaupt ernst genommen wird. Bei TE1 heißt es „stell Dich nicht so an“. Dies wäre akzeptabel, wenn die Symptome reversibel sind, wie die narkotisierende Wirkung. Sie sind es aber nicht. Aus der TE1 wird die TE2. Bei PISA denkt keiner an eine TE1 und schon gar nicht an eine Langzeitwirkung für den restlichen Lebensweg.
Wissenschaftlich wissen wir es besser.
Ein Beispiel, wie Verharmlosung die Wirkschwelle drastisch anhebt, war bei Singer unter der Überschrift „Akuttoxikologie“ so formuliert: 25 ppm Benzol (80 mg Benzol/m³) bewirkten (noch) keine offensichtlichen (‚not obvious‘) Effekte (Singer 1990, S. 153, Bezug: Clayton & Clayton 1981##). So etwas wird gern überlesen. Er fährt fort: „aber zwischen 50 und 150 ppm erzeugt es Kopfweh, Mattigkeit und Lustlosigkeit“ (a. a. O.). Wo ist jetzt der LOAEL (Lowest Observed Adverse Effect Level)? Die Kurve ist sehr flach? Und was ist advers?
In der Sprache der Toxikologie heißt das Auswahlkriterium für Symptome, die ernst genommen werden „advers“ (lat.: schlimm). Das ist wenig wissenschaftlich. Das erlaubt eine gewisse Toxikologie nach Bauchgefühl. Es grenzt Symptome milder Erscheinungsform aus, ohne darauf zu achten, ob diese Anzeiger für Schlimmeres sind, wenn der Verlauf progredient ist. Es wird immer unterstellt, dass sich unterhalb von „advers“ ein adaptiver Bereich befindet, leichte Symptome, die obendrein reversibel sind. Da liegt der Denkfehler. Die Anzeiger für Vergiftungen gehen nicht weg wie eine Narkose oder schlechte Laune.
Die Symptome der TE1 sind durchweg progredient: sie beginnen mit einem Schwächemix, schlecht drauf sein, schlechte schulische Leistungen (mit sauberer Luft in Schulen würden die PISA-Leistungen durch die Decke schießen). Dann phasenweise AU, dann EU (erwerbsunfähig), schließlich dement. Auch viele Anzeiger des SBS – alle Schleimhautreizungen etwa – sind ernst zu nehmende Warnungen. Da gibt es keine Gewöhnung und manche chronifizieren dauerhaft. Erst Anlass zu Spott und Kopfschütteln, dann Invalide.
Für die Arbeitsmedizin ist aber nur akute AU auch „krank“. Fragt man dann nach der Dosis, erkennt man nur einen Bruchteil der Dosis, nämlich die des letzten Tages. Die Arbeitsmedizin widmet sich betrieblichen „Ereignissen“. Wenn einem mal nicht ganz wohl ist, wird er nach Hause geschickt. Wenn das öfter vorkommt, zum Betriebsarzt. Den beeindrucken unspezifische Symptome nicht und es handelt sich um eine Expositionszeit von max. 8 h.
Der Ausgangspunkt für die ADI-Abschätzung ist immer der NOAEL (No Observed Adverse Effect Level). Wie oben schon gezeigt, kann man da bei der Ratte ganz falsch liegen, beim Menschen aber auch. Advers ist adaptiv entgegengesetzt. Bei Effekten, die adaptiv eingestuft werden, erwartet man, dass sie reversibel sind, eben ‚nicht schlimm‘, nur eine Verschiebung der Laborwerte innerhalb der Referenzgrenzen. Erst außerhalb ist krank, erst außerhalb wird dann die entsprechende Diagnose gestellt.
Im Grunde ist Letzteres der Hauptgrund, warum toxische Invaliden entstehen: die adaptive Phase wird nicht registriert, sollte sie doch registriert werden, wird sie nicht ernst genommen und soweit sensible und weiterdenkende Menschen eine gründliche Untersuchung fordern, werden sie verhöhnt.
Als Beispiel sei der Gesamt-IgE genannt. Er sollte beim gesunden Menschen Null sein. Erst wurde 100 [##] als Referenzwert benannt. Unterhalb ist es nicht Allergie. Jetzt unterhalb 120 [##]. Das zeigt den Trend. Aber unterhalb von welchem Wert auch immer, ist es eine Sensibilisierung, also Allergie. Wir wissen Bescheid, wir haben einen brauchbaren Laborparameter, aber stellen uns dem Problem nicht. Wir haben auch einen für chronische Müdigkeit, die NO.-Konzentration, da wird die Definition eines Referenzwertes überhaupt verweigert. So wird der Burnout zum CFS und letztlich zu AU, EU oder Schlimmeren.
Die Definitionen der Umweltkrankheiten liefern Effekte, die ‚nicht schlimm‘ und bei Karenz reversibel sind und andere, die pseudoharmlos sind, weil sie chronifizieren können. Zu letzteren zählen neurotoxische Effekte und Effekte des Immunsystems, insbesondere unspezifische Überempfindlichkeiten – HRB ist anerkannt und MCS nur auf WHO-Ebene (wissenschaftlich, rechtlich ist das psycho). Bei Allergien ist das Tableau gemischt (wohl dem, der (noch) Allergiker ist, sagte mir Mitte der 90er Jahre ein Präventivmediziner, was ich damals nicht verstanden habe und die Schulmedizin bis heute nicht.). Keines der Diagnosekriterien der TE1 ist ‚obvious‘ und keines wird ‚besser‘, auch nicht nach Expositionsende. Manche werden gar schlimmer, ohne weiteren äußeren Einfluss.
Dem adaptiv-advers Unterschied hat sich der Bewertungsband der EPA-Dioxin-Studie ausführlich gewidmet. Bei der Präsentation in Bayreuth habe ich den Vertreter der EPA gefragt, wie sie die Scheidelinie definieren. Die Antwort war: beim Überschreiten der Referenzwerte. Wenn also – noch – keine pathologischen Laborwerte auftreten, dann ist das adaptiv. In der Praxis – vielleicht zeigen einige immunologische Parameter eine Verschiebung, vielleicht sogar eine grenzwertige Verschiebung - schickt dann aber schon die Sprechstundenhilfen den Patienten weg: „Bei Ihnen ist alles in Ordnung!“. Wer rechtzeitig zum Arzt geht, bekommt erst recht keine Hilfe.
Es ist letztlich die alte Primitivtoxikologie: ungewöhnliche Effekte, zeitnah. Dafür braucht man keine Labors und keine Wissenschaft. Das wussten Kräuterkundige, Apotheker und Heilkundige schon seit 2 000 Jahren. Hippokrates wußte es sogar schon vor 2 500 besser. Er konnte Gicht heilen oder bessern durch Diätvorschriften, ohne zu wissen, was eine Purinbase und ein pH-Wert ist. Er hatte kein Labor, aber er wusste, was eine chronische Fehlentwicklung ist.
Betriebsärzte sind mit unmittelbaren Unfallfolgen befasst. Ihnen entgehen Frühsymptome und die Entwicklung der Erkrankung bis zum Zeitpunkt der partiellen oder gar vollständigen Arbeitsunfähigkeit. So ist für die Arbeitsmedizin erst der Schweregrad 2B einer toxischen Enzephalopathie „krank“. Dann aber kann der Betriebsarzt den Zusammenhang mit der Exposition am Arbeitsplatz nicht mehr herstellen: die Vorgeschichte kennt er nicht und die aktuelle Exposition ist für eine AU zu klein. Er sieht den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, aber nicht, wie sich das Fass gefüllt hat. Die chronischen Erkrankungen aufgrund chronischer Intoxikation sind immer ein Overload.
Chronische Neurotoxizität lässt sich ätiologisch über einen längeren Zeitraum gut nachvollziehen, wie die WHO das durch die Definition von vier Schwergraden gut strukturiert hat. Der Verlauf der TE nach Singer zeigt (vgl. o. „Neuronale Chronifizierung (Verlauf TE)“, q#) die Ätiologie noch plastischer: Psycho ist neurotoxisches Frühsymptom, manchmal ergänzt durch Störungen des ANS (Autonomes Nervensystem als Teil der toxischen PNP) – Herzrasen, Herzrhythmusstörungen - (##), dann die kognitiven Defizite, Schlafstörungen, dann erst Kopfschmerzen. Die Erkenntnis kommt zu spät. Und schließlich sagt der Hausarzt, dass er nichts finden kann.
Bei langen Krankengeschichten ist der Verlauf in den Akten in den meisten Fällen der Schlüssel. Was der Hausarzt nicht versteht findet sich dort deutlich und eindeutig. Ignoriert man die Ätiologie, schafft man Invaliden.
Will man nun diese Unterschiede in einer Zahl ausdrücken, hat man verschiedene Zugänge: Berechnet man den Zeitfaktor aus dem Unterschied von Kurzzeitbetrachtung und tatsächlicher Zeit, die zwischen Erstexposition und Chronifizierung vergeht, so erhält man Faktoren zwischen 200 und 8 000 (6 Monate und 20 Jahre ins Verhältnis zu einem Arbeitstag, gerundet).
Tabelle II, 2: |
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[µg/m³] |
MAK |
RW I |
Faktor |
Toluol |
190 000 |
300 |
633 |
Styrol |
86 000 |
30 |
2 900 |
Xylole |
440 000 |
100 |
4 400 |
Ethylbenzol |
88 000 |
200 |
440 |
Ethylacetat |
1 500 000 |
600 |
2 500 |
Acetaldehyd |
91 000 |
100 |
910 |
Tetrachlorethen |
345 000 |
27 |
12 800 |
Vergleicht man alle verfügbaren Vergleichspaare MAK/RW-I-Werte von VOC, so ergibt eher größerer Unterschied als der Faktor 1 000 (s. nebenstehende Tabelle). Der Zeitvergleich liegt demnach in der richtigen Größenordnung.
Die RW I deuten ebenso darauf hin, dass die TVOC-Bewertung von 200 µg TVOC/m³ eher unter- als überschätzt.
Nun können auch die Dosiswerte nochmals betrachtet werden, um jenen Vorstellungen zu begegnen, die letztlich unser Urteil prägen. Berechnen wir etwa Toluol 8-h-MAK-grenzwertig so ergibt sich 1 g (8-h, akut). Ein Jahr eine Belastung von 0,3 mg Toluol/m³ ergibt 1 - 3 g [1] je nach Tätigkeitsprofil. Man erhält so eine Alternative zur obigen Faktor-Tausend-Korrektur, nämlich einer Einschätzung nach Dauer.
Beim Updating der Tabelle II,2 lässt sich auch ein Trend erkennen. Vielfach lässt sich die Tabelle der RW I und RW II – Werte nicht mit den MAK vergleichen, da bei letzteren die Grenzwerte gestrichen wurden oder keine existieren. Die RW-Werte sind eine Bremse der Umweltdiskussion (vgl. o. Kritik der Risikoabschätzung nach Eikmann et al, Loseblattsammlung). Da wird einerseits darauf gepocht, dass nur Einzelstoffdaten wissenschaftlich sind und gleichzeitig die Abschätzung solcher Daten erst publiziert, wenn sie aus den Rezepturen verschwunden sind. Damit schützt man die Stoffe.
Die MAK-Liste dagegen bekommt immer größere Löcher: Bei krebserregenden Stoffen wird der MAK gestrichen, denn dafür gibt es ja keine Wirkschwelle – der Unit Risk Faktor (URF, vgl. EPA-IRIS (Integrated Risk Information System)) aber wird ignoriert. D. h. statt den alten MAK zu erniedrigen, wird er gestrichen. Das gleiche gibt es auch bei Einträgen ohne MAK mit Hinweis auf die Tabelle der BAT (Biologische Arbeitsstoff-Toleranzwerte). In letztere Fällen wird die Blutbelastung bewertet (zur geringen Aussagekraft vgl. o. „Biomonitoring“) und bekommt keine Expositionsbewertung mehr. Die Bewertungsmöglichkeiten werden sukzessive kleiner. Die Listen driften auseinander. Das stiftet Verwirrung und das ist auch so gewollt.
[1] Der Mensch atmet pro Tag im Durchschnitt 20 m³, nachts weniger, tags mehr. Also wird für die Arbeitszeit 1 m³/h in Ansatz gebracht. 190 mg/m³ * 8 m³ = 1 g (Gerundet). 0,3 mg/m³ * 8 m³ * 5 * 250 = 3g. Beachtet man, dass solche Expositionen selten den ganzen Arbeitstag ausfüllen – etwa bei Malern, Hauptarbeitszeit Vorbereitung, so ergeben sich 1 – 3 g.