Zeitmodell
Letztlich hängen die großen Diskrepanzen mit der Eliminierung des Zeitfaktors zusammen, nämlich über die Halbwertszeiten. Bei der Kinetik-Frage (resp. Akkumulation) ist es der Unterschied der Halbwertszeiten bei Mensch und Tier. Bei der Frage des Aufnahmeweges ist es versteckt. Große Unterschiede in den Halbwertszeiten ergeben sich aus dem Durchgang durch den Organismus. Wird die Leber schnell erreicht, sind letztere klein, die Ausscheidung erfolgt rasch. Die inhalativ aufgenommenen Schadstoffe erreichen die Leber systemisch, also verlangsamt. Der Unterschied in der Halbwertszeit ist hoch. In der Literatur steht dann nur die niedrige Zahl des ingestiven Weges.
Der ADI ist zeitlos. Er gibt nur die Tagesdosis an. Damit ist der ADI auf die Tagesdosis normiert. Darin steckt die Behauptung, dass eine solche Tagesdosis lebenslang verträglich ist. Damit ist dem Zeitfaktor scheinbar Rechnung getragen. In Wirklichkeit ist er aus der Dosisbestimmung eliminiert worden.
Ein Langzeit-Beispiel: Aluminium und Alzheimer. Der Zusammenhang ist bekannt (##). Der ADI ist schon sehr alt und berücksichtigt Alzheimer nicht. Im Tierversuch ist es nicht testbar. Unsere tägliche Aufnahme ist seither eher gewachsen als gesunken, das Vorkommen von Alzheimer auch. Gemäß ADI ist der Zusammenhang zu verneinen. Dass die zwei Testjahre „lebenslang“ repräsentieren, kann man getrost ausschließen.
Die Epidemiologie zeigt sehr unterschiedliche Verläufe: Monate, Jahre, Jahrzehnte. Dosis ist eben Konzentration mal Zeit. Mikkelsen hatte 5 000 Totenscheine beruflich Exponierter ausgewertet (##). Diesen Verhältnissen hat die WHO sehr genau Rechnung getragen: Die TE als Folge von inhalativer Narkotika (alle Lösemittel (= VOC) haben narkotische Wirkung) wurden vier Schweregrade – TE1, TE2A, TE2B, TE3 = Handicap mit verminderter Lebensqualität, AU bis EU [1], Demenz – unterteilt, die zeitlich aufeinander folgen.
Rein mathematisch ist Dosis eine Matrix – eine Konzentrations-Zeit-Matrix.
Risikoabschätzung seit den 90er Jahren
In den 90er Jahren hat man sich eben nicht am wissenschaftlichen Sachverständigenbeirat orientiert, sondern alles unternommen, das alte Konzept zu retten. Dabei erweist sich vor allem die Trennung der Einzelwirkungen des täglichen Giftcocktails als herausragend wichtig.
Die Epidemiologie gibt Auskunft über die Wirkung der Summe, aber sie erklärt nicht, wie addiert werden soll. Das ist Aufgabe der Toxikologie. Diese verweigert sich, und zwar aktiv. Durch eifriges Datensammeln wird die Einzelstofftoxikologie zementiert: Die Loseblattsammlung unter der Ägide des Umweltbundesamtes und des Arbeitskreises der Länder (Eikmann et al, ####), ist der Versuch, durch eifriges Datensammeln über Einzelstoffe Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen. Man setzt auf Quantität. Viele Daten = viel Wissenschaft. Damit wird verweigert, Eins und Eins zusammenzuzählen. Sie schlagen Richtwerte unterschiedlicher Qualität vor: RWI und RWII – chronisch und akut.
Manchmal wird die Anwendung der gewichteten Summe empfohlen: jeder Messwert (Mi) wird durch seine Wirkschwelle (Wi) dividiert und die Ergebnisse dieser Normierungen addiert:
Risiko =
Ist „Risiko“ > 1 , wird von einer Wirkung ausgegangen.
Allerdings nutzt es nichts, solange die Liste der Richtwerte dem aktuellen Gebrauch 10 bis 20 Jahre hinterherhinkt. Das liegt einerseits in der Natur der Sache. Die Rezeptur ist schnell geändert, die toxikologischen Daten lassen auf sich warten. Anderseits will jene Loseblattsammlung die Lücke auch gar nicht schließen. Über ein Jahrzehnt wurden immer wieder die Daten von den wenigen Stoffen, die aufgenommen worden waren, ergänzt und dann nochmal ergänzt und dann noch mal ergänzt. Das Werk kommt nicht voran: In zehn Jahren kein nennenswerter Zuwachs der bewerteten Substanzen. Das ist kein Aufklärungswille.
Aus toxikologischer Sicht ist eine gewichtete Summe ebenfalls fragwürdig, denn man muss immer von Kombinationswirkungen ausgehen. Es ist schwierig und aufwändig im Einzelnen festzustellen, ob der Synergieeffekt additiv ist oder mehr als additiv oder weniger als additiv: Die Gesamtwirkung wird stets von der gebildeten Summe abweichen. Je größer die Anzahl der Summanden, desto weniger sagt diese Summe aus.
So etwas wirkt aber als Vorbild.
Es sind mir eine Zeit lang notorisch Gutachten untergekommen, in denen allen Ernstes Bewertungen vorgenommen wurden, die nur Stoffe mit Bewertungsgrößen (MAK oder RW) bewertet haben, die anderen Stoffe aber nicht. Die fielen einfach unter den Tisch. Das ist in der Regel die Mehrheit.
Die RWI liegen manchmal einen Faktor 1000 – mikro statt milli - tiefer als die MAK und bestätigen die oben vorgeschlagene Pauschalkorrektur und sie demonstrieren gleichzeitig, dass die Einzelstofftoxikologie der Garant für toxikologische Fehlbewertungen ist.
Dieser quantitative Unterschied ergibt sich auch durch Zeitvergleiche: Vergleicht man den 8-h-Tag mit den Zeiten, die zwischen Erstexposition und Chronifizierung vergehen, so erhält man Faktoren zwischen 200 und 8 000 (6 Monate und 20 Jahre ins Verhältnis zu einem Arbeitstag, gerundet).
Tabelle II, 2: |
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[µg/m³] |
MAK |
RW I |
Faktor |
Toluol |
190 000 |
300 |
633 |
Styrol |
86 000 |
30 |
2 900 |
Tetrachlorethen |
345 000 |
27 |
12 800 |
Vergleicht man die MAK-Werte mit den RW-I-Werten von VOC, so ergibt sich ein Unterschied in der Größenordnung eines Faktor 1 000 (s. nebenstehende Tabelle) und in einigen Fällen auch erheblich mehr. Der Zeitvergleich liegt demnach in der richtigen Größenordnung. Berechnen wir etwa Toluol 8-h-MAK-grenzwertig so ergibt sich 1 g (8-h, akut). Ein Jahr eine Belastung von 0,3 mg Toluol/m³ ergibt 1 - 3 g [2] je nach Tätigkeitsprofil. Das genügt aber nicht. Denn erstens gibt es nicht genügend RW-Werte, so dass kein reales Gemisch toxikologisch bewertet werden kann und zweitens fallen so die Synergismen unter den Tisch
Toxische Innenräume- der TVOC
VOC sind ein wichtige Parameter für unsere biologische Degression, insbesondere bei der Minderung der Hirnkapazitäten. Es ist schon seit den 60er Jahren bekannt, dass der Innenraum für das chronische Intoxikationsgeschehen der giftigere Ort ist. Eine Hauptrolle spielt dabei die VOC-Belastung. Was schon Randolph bis 1962 an Patienten feststellte (Erste Umweltkonferenz durch Kennedy, Ashford & Miller 1998, S.##) zeigte sich 1985 durch Mølhaves Probandenversuche. Deren Ergebnisse im Vergleich mit den Innenraum-Umweltsurveys des Umweltbundesamtes (Daten: ## 1986, UBA 1990##, vgl. u. orientierendes Diagramm), beweisen endgültig, dass die Innenräume giftig sind und zwar in Bezug auf das Nervensystem und das Immunsystem.
Der Probandenversuch wurde mit einem Standardgemisch und in einem subchronischen Zeitrahmen 1985 durchgeführt (Mølhave 1986). Für den dänischen Toxikologen Lars Mølhave zählt nur der TVOC als toxikologisch aussagekräftige Dosis. Der TVOC (Total Volatile Organic Compounds) ist die Gesamtsumme aller organischen Stoffe, die für eine Luftbelastung ausreichend flüchtig sind. Alle organischen Moleküle in der Luft sind lungengängig.
Der Versuch ersteckte sich über 4 Wochen mit 2,75 h Exposition pro Wochentag, mit der SBS-Definition als doppelblind ausgeführtes Testschema. Es wurde doppelblind anhand der Diagnosekriterien des SBS getestet [3]. Der Versuch wurde mehrfach wiederholt und durch weitere Parameter bestätigt, wie etwa Immunparameter oder .. (##). Exposition war ein Standardgemisch aus 22 Stoffen (Mix aus den zu dieser Zeit gängigsten Lösemitteln im Innenraum) - Dosisgröße war der TVOC. Es wurde mit 25 mg, 5 mg und 0 mg TVOC/m³ getestet. Alle Probanden reagierten bereits auf 5 mg TVOC/m³ also einem 1/40 bis 1/100 der MAK.
Schon die subchronische Wirkschwelle muss demnach erheblich tiefer liegen.
Die chronische Wirkschwelle muss nochmals tiefer liegen (vertiefende Berechnungen dazu: Merz et al 200##).
Mølhave hat eine chronische Schwelle von 200 µg TVOC/m³ vorgeschlagen.
Diese Schwelle liegt in der Größenordnung von 1/1000 vieler MAK (z. B: Toluol mit 190 mg Toluol/m³). Aber damit ist die Fehlbewertung noch nicht erfasst. Das toxikologische Konzept der Einzelstoffbewertung enthält keine Beschränkung durch Interdependenzen. Jeder Grenzwert darf danach unabhängig von anderen Stoffen voll ausgeschöpft werden. Bei 22 Komponenten etwa kann dann die Fehlbewertung einen Faktor 20 000 oder mehr betragen. So etwas geht nur auf dem Papier. In der Realität hätte dies bereits die Vollnarkose zur Folge. Der TVOC verhindert solche Abwegigkeiten. Nach Mølhave ist deshalb keine Einzelstoffbewertung mehr wissenschaftlich begründbar.
Der TVOC ist die Berücksichtigung der Kombinationswirkung bzw. eine erste Näherung daran. Die Epidemiologie hatte schon vorher den Nachweis geliefert, dass alle VOC-Gemische ohne Ausnahme ein neurotoxisches Risiko sind. Einen Schlüssel für die differenzierte Bewertung von Einzelstoffen liefert sie aber nicht. Er ist auch nicht notwendig. Denn alle VOC sind neurotoxisch. Alle sind narkotisierend. Die Narkosetheorie erklärt die Unterbrechung der Nervenleitung dadurch, dass sich die lipophilen [4] VOC in die innere lipophile Schicht der Zellmembranen einlagern und so die Kommunikation der Neuronen über die Synapsen stören (Scholz ##).. So ist leicht einzusehen, dass sich die VOC bei der Narkose additiv ergänzen.
Die Europäische Kommission hat eine Liste mit unterschiedlichen Wirkstärken für VOC vorgeschlagen (EC 1990##). Dabei sind derart niedrige Schwellwerte herausgekommen, dass die Ergebnisliste sofort rechtlich völlig entwertet wurde: Sie wird nur für Emissionskammertests herangezogen bzw. „erlaubt“.
Vergleicht man nun zeitabhängigen Wirkgrößen (Matrix) – nach UBA 1999 -,
10 000 bis 25 000 µg TVOC/m³ „allenfalls vorübergehend“
1 000 bis 3 000 µg TVOC/m³ („nicht auf Dauer“)
300 bis 200 µg TVOC/m³ nach Möglichkeit unterschreiten
so haben wir Unverträglichkeit direkt nach Renovierungen, einen subchronisch-toxischen Bereich oberhalb 1 000 µg TVOC, d. h. Symptome bei täglichem Gebrauch und einen chronisch-toxischen Bereich oberhalb 200 µg TVOC/m³. Das entspricht auch einer späteren deutschen Studie (Pitten et al 2004##) und der täglichen Praxis des Autors. À la longue macht eine Exposition oberhalb 200 µg TVOC/m³ krank.
Seit 1985 ist auch bekannt, dass solche Innenraumbelastungen in Deutschland die Normalität darstellen: 10% der Stichproben (90%-Perzentil) für den TVOC liegen zwischen 0.8 und 2,8 mg TVOC/m³. Der Mittelwert überschreitet mit 450 µg TVOC/m³## die chronische Wirkschwelle von Mølhave um mehr als das Doppelte. Der Median sagt aus, dass 50% der Stichproben über 0,4 und 50% der Stichproben unter 0,4 mg TVOC/m³ lagen. Die Mehrzahl der Stichproben liegt demnach im Bereich chronischer Toxizität. Die Stichproben unter der chronischen Wirkschwelle sind die Minderheit. Das ist die Normalität.
Nach Renovierungen liegen die Belastungen noch höher: 10 000 - 20 000 µg TVOC/m³, acht Wochen nach Bezug noch 1500 µg TVOC/m³, eine Woche nach einer Renovierung 5 000 – 7 000 µg TVOC/m³ gemessen [Seifert 1999]. Die Belastung durch VOC beginnt demnach in der Regel im akut-toxischen Bereich, sinkt rasch in den chronisch-toxischen Bereich ab und verbleibt dort über einen langen Zeitraum. Das ergibt sich aus der Innenraumkinetik.
Das ist die Realität in Deutschland: unsere Innenräume machen krank. Seit das klar ist, wird alles getan, diese Tatsache zu verschleiern. Obige schon sehr schwammige zeitabhängige Bewertungsmatrix wurde mehrfach weiter verharmlost (eines der Generalthemen des Teil III) in Verbindung mit kreativen Vorschlägen, wie man den TVOC kleinrechnet.
Die Mølhavesche Wirkschwelle (200 µg TVOC/m³) ist im Sinne des SRU, wonach das Hauptaugenmerk auf solche kritischen Bereiche – Risikogruppen - zu richten ist (SRU 1987, Ziffer 1254ff), streng. Menschen reagieren alle – also zu 100% - noch auf 5 mg TVOC/m³ (Mølhave 1985, Probandenversuch). Das ist ein LOAEL (Lowest Observed Adverse Effect Level). Nach einer Faustregel des UBA (UBA 1983, S, 17) ergibt sich ein NOAEL (No Observed Adverse Effect Level) von 0,5 mg TVOC/m³. Dies ist aber noch kein chronischer Wert. Eine weitere Faustregel besagt, dass für den Unterschied von subchronisch zu chronisch auch ein Faktor 10 anzusetzen ist, sodass der streng wissenschaftlich-toxikologisch abgeleitete Grenzwert 50 µg TVOC/m³ lauten müsste. Auch dies gilt nur für eigentlich Gesunde. Besonders empfindliche Personen wären dann immer noch nicht berücksichtigt. (Rechenwege, vertiefende Erläuterungen Merz et al 2005#).
In der Praxis existiert eine chronische Wirkschwelle nicht |
Die Bewertung nach Mølhave ist aus folgenden Gründen die einzig wissenschaftlich vertretbare, weil die Tests
- am Menschen
- über einen längeren Zeitraum stattfanden,
- die zugrunde gelegte medizinische Bewertung (SBS-Diagnosekriterien) reine Humantoxikologie darstellt
und schließlich - die Tests mit einem TVOC-Standardgemisch durchgeführt wurden und so Synergismen im Ansatz berücksichtigt sind.
Hauptverursacher Innenraum + VOC |
Das Arrangement bildet demzufolge die Realität ab, sofern die Wissenschaft das bis heute vermag. Nur zwischen zwei Gemischen unterschiedlicher Gesamttoxizität kann es nicht unterscheiden. Dieser Fehler ist sicher nur in wenigen Fällen zu beachten, meist nicht entscheidend.
[1] AU = Arbeitsunfähigkeit bezieht sich auf den Beruf und/oder die zuletzt ausgeübte Tätigkeit; EU = Erwerbsunfähigkeit verneint eine Vermittelbarkeit überhaupt
[2] Der Mensch atmet pro Tag im Durchschnitt 20 m³, nachts weniger, tags mehr. Also wird für die Arbeitszeit 1 m³/h in Ansatz gebracht. 190 mg/m³ * 8 m³ = 1 g (Gerundet). 0,3 mg/m³ * 8 m³ * 5 * 250 = 3g. Beachtet man, dass solche Expositionen selten den ganzen Arbeitstag ausfüllen – etwa bei Malern, Hauptarbeitszeit Vorbereitung, so ergeben sich 1 – 3 g.
[3] Aus der gutachterlichen Praxis kann dazu berichtete werden, dass diese Definition vielfach weiterhilft, wenn die Situation chaotisch erscheint, eine große Anzahl verschiedenster Diagnosen verschiedener Fachärzte vorliegen, dann zeichnen die Diagnosekriterien der SBS ein Grundschema und es ist meist von Erfolg gekrönt, wenn man den unterschiedlichen Ätiologien der verschieden Organe bzw. Organsysteme nachgeht. Das Bild wird nachvollziehbar und überschaubar.
[4] Lipophil = fettlöslich und wasserabweisend