Fachdiskussion vor Gericht
Die grundsätzliche Problematik einer Fachdiskussion vor Gericht – der Richter ist der Laie – soll einmal der Vorsitzende des 20. Senats des Bundesverwaltungsgerichtes, Dr. S., wie folgt pointiert haben: „Wir verstehen nichts, wir entscheiden alles und das endgültig.“ Der Jurist kann eine naturwissenschaftliche Streitfrage wegen Inkompetenz nicht entscheiden. Er muss aber als Richter ein Urteil fällen. Also wird er sich an juristisch formalisierbare Rahmenbedingungen orientieren. Da ist z.B. bei einem Gutachten die äußere Form wichtiger als der Inhalt, als da sind: Literaturapparat, sorgfältige Einarbeitung der Literatur im Text, Hochrangigkeit der zitierten Literatur, Widerspruchsfreiheit im Text selbst, Ausführlichkeit (Nachvollziehbarkeit) des Textes selbst...Außerdem wird er sich an Titel, gesellschaftlichem Rang und Namhaftigkeit des Autors orientieren. Kriterien hat das Bundessozialgericht wie folgt formuliert:
"Um bei der Prüfung des Kostenerstattungsanspruchs für eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode einerseits dem Gebot gerecht zu werden, dem erkrankten Versicherten alle gleichermaßen geeigneten Mittel zugute kommen zu lassen ohne andererseits gegen das Verbot zu verstoßen, die Krankenkassen für Erprobungen einstehen zu lassen, gibt es nur zwei mögliche Ansätze: entweder die Gerichte setzen sich mit der medizinisch-wissenschaftlichen Qualität der in Rede stehenden Methode inhaltlich auseinander, um eine bisher nicht zustande gekommene Entscheidung des Bundesausschusses vorwegzunehmen, bzw. zu ersetzen, oder sie beschränken sich auf die Prüfung, ob die neue Methode in der medizinischen Fachdiskussion bereits ein solches Gewicht zukommt, dass eine Überprüfung und Entscheidung durch den Bundesausschuss veranlasst gewesen wäre. Das richtet sich nicht nach medizinischen Kriterien (Wirksamkeit, Plausibilität, Erfolg im Einzelfalle, usw.), sondern nach der tatsächlichen Verbreitung in der Praxis und der fachlichen Diskussion.
Diesem zweiten Ansatz folgt der Senat."
(Urteil vom 16.9.1997, 1 RK 28/95, S. 19 ua)
Das Gericht lehnt es also ab, inhaltlich medizinische Entscheidungen zu fällen, sondern prüft den Stand der Wissenschaft.
Anfang 2001 hat das BSG die Anforderungen verschärft. Danach ist auch der Wirknachweis zu führen. Dies ist aus der Sicht der Juristen so definiert, dass entsprechende Doppelblindstudien vorgelegt werden müssen.
Prüfkriterien sind demnach:
1) Existiert eine ausreichende Literatur, dass man von einer breiten Fachdiskussion sprechen kann?
2) Gibt es eine ausreichende Verbreitung des Verfahrens in der Praxis?
3) Ist die Wirknachweis durch eine entsprechende Doppelblindstudie - ggf. gestützt durch Tierversuche, und durch ausreichende Anzahl von Kasuistiken - geführt worden?
Zur Anerkennung von Therapieverfahren (Erstattungsfähigkeit):
Maßgebend für die Erstattungsfähigkeit sind die Listen der NUB-Richtlinie. Ist das Therapieverfahren in der Positivliste aufgeführt, ist es erstattungsfähig. Ist das Therapieverfahren in der Negativliste aufgeführt – z.B. Elektroakupunktur nach Voll –, so sind die Kosten nicht erstattungsfähig und für den Einzelpatienten gibt es keine Möglichkeit, hier auf dem Klagewege etwas dagegen zu tun. Um einen solchen Eintrag – sollte er falsch sein – zu ändern, bedarf es großer Anstrengungen, etwa durch ein wissenschaftliches Institut und es müssten neuere wissenschaftliche Forschungsergebnisse ins Feld geführt werden oder der Nachweis geführt werden, dass dem Bundesausschuss bei seiner Entscheidung ungenügende Unterlagen vorgelegt worden sind.
Soweit das Therapieverfahren in der Positivliste fehlt – und dies ist der Normalfall bei der umweltmedizinischen Diagnostik und Therapie – so kann man formal die Klage darauf aufbauen, dass genügend Material vorgelegen hätte, dass der Bundesausschuss sich damit hätte befassen müssen, dies aber nicht getan hat, dass demnach ein sogenanntes ‚Systemversagen’ vorliegt. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung können im Falle eines solchen Systemsversagens, bzw. Versagens des Bundesausschusses, die Kosten dafür nicht dem Patienten zur Last gelegt werden, so dass die Versicherung so lange erstatten muss, bis sich der Bundesausschuss dazu geäußert hat.
Dazu muss der Kläger die oben angeführten drei Punkte, Fachdiskussion, Verbreitung in der Praxis und Wirknachweis führen. Dies ist in der Regel bei den Verfahren, die in der Umweltmedizin zur Anwendung kommen, möglich. Dies hat seinen Grund u.a. darin, dass die Verfahren bereits durch die Orthomolekularmedizin entwickelt wurden, von der Ernährungsmedizin weiterentwickelt wurden und auf diese Art und Weise in die Umweltmedizin eingeflossen sind. Auf diesem Wege etwa 50-jähriger Forschung und klinischer Testung und Anwendung sind auch Nobelpreise verliehen worden. So ist es möglich, sich auf höchste Autoritäten zu berufen.
Bei einigen Verfahren – z.B. bei der Q10-Therapie – die wirklich neu sind, d.h. im letzten Jahrzehnt entwickelt wurden, liegen zwar Wirknachweise vor, aber nicht in der Form, wie sie die Juristen verlangen, es fehlen also noch die entsprechenden Doppelblindstudien.