Industrieanlagen
TA-Luft
Zur Risikobewertung von Industrieanlagen benötigt man drei Größen, die in aller Regel nur unvollständig bekannt sind:
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Die Emissionen
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Die Ausbreitung am Standort
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Die Immissionsgrenzwerte
Dieses Bewertungsschema stammt aus der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft (TA-Luft) von 1974. Sie bewirkte eine sichtbare Verbesserung der Luftqualität. Die Staubemissionen wurden seither drastisch reduziert. Sie konnte jedoch weder das Waldsterben noch die Versauerung der Seen verhindern – im Gegenteil die Schornsteinhöhenberechnung der TA war ein wichtiger Grund für die gleichmäßige Verbreitung dieser Effekte auf der Nordhalbkugel.
Die TA enthält eine Dynamisierungsklausel bezüglich des Standes der Abgasreinigungstechnik. Bei der Novellierung 1986 wurde einige Emissionsrichtwerte nach unten angepasst. Soweit es politisch notwendig erschien, wurden jeweils Verordnungen zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchV’ s) erlassen: z.B. die 13. BImSchV, die Großfeuerungsanlagenverordnung, anlässlich der Diskussion um das Waldsterben, die 17. für die Müllverbrennung. Die Verordnungen und die Änderungen der TA orientieren sich am Stand der Technik und an der Wirtschaftlichkeit. Sie sind in keinem Fall Ergebniss toxikologischer, medizinischer oder ökologischer Studien. Es sind eben echte ad-hoc-Entscheidungen (Soweit in den BImSchV Richtwerte für die Immission genannt werden, sind sie rechtlich nicht bindend, keine Grenzwerte, s.u.).
Die TA-Luft gilt in ihrer Gesamtheit als antizipierendes Sachverständigengutachten, d. h. dass Gutachten, die zu anderen Bewertungen kommen unbeachtet bleiben, es sei denn, es gelingt, die wissenschaftliche Überholtheit der TAL kann nachgewiesen werden. Dieses antizipierende Sachverständigengutachten wurde 1974 festgeschrieben und repräsentiert demnach den Stand der Wissenschaft vom Ende der 60er Jahre. Bisher hat dies noch keine Verwaltung und kein Gericht beanstandet.
Emissionscocktails
Bekannt sind die Emissionen, die überwacht werden. Quantitativ überwacht werden vier Säuren, die Ausbrandparameter Kohlenmonoxid und die Summe organischen Kohlenstoffs, Cadmium in Summe mit Thallium, Quecksilber sowie zehn Schwermetalle in Summe, und schließlich 17 Dioxine und Furane angegeben als toxische Äquivalente; in Sonderfällen auch die zehn wichtigsten krebserregenden Polyaromaten (PAK). Ein solches Überwachungsprogramm für Feuerungsanlagen gilt als strenges Messprogramm. So gibt es einen Überblick die Gruppe der Dioxine und Furane, von deren 235 Einzelsubstanzen die 17 giftigsten überwacht werden.
Hartnäckiges Nachfragen fördert wiederholt neue Gruppen chemischer Verbindungen mit erklecklicher toxischer Potenz zutage:
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1984 veröffentliche Prof. Wassermann eine ganze Tafel mit Molekülen, die der Struktur nach den Dioxinen und Furanen ähneln, deren pyrochemische Entstehung ähnlich wahrscheinlich ist, deren Wirkung auf den AHH-Rezeptor dem der Dioxine und Furane gleich sein müsse. Es gab nur eine einzige schwedische Arbeit, die analytisch einige dieser Substanzen im Bereich von > 1 µg/m³ nachgewiesen hat. Dabei ist es geblieben.
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Über die Emissionen der PCBs, und ganz besonders der coplanaren PCBs, gibt es nur einige wenige Anhaltswerte. Einige hohe Messergebnisse werden nicht herangezogen, da sie nicht ausreichend repräsentativ sind, einige niedrige Ergebnisse waren dann Anlass, weitere Messungen für entbehrlich zu halten. In der Außenluft ist die Konzentration der toxischen Äquivalente höher als die der Dioxine und Furane.
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Über die bromierten und die gemischt bromiert-chlorierten Dioxine und Furane wissen wir noch weniger.
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Aus einem Fundus von über 5000 Substanzen, deren Vorkommen gesicherte Erkenntnis ist, wissen wir nur über etwa 200 Bescheid.
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Über einen erweiterten Fundus anderer dioxinähnlicher Molekülgruppen (s.o), dessen Existenz ebenso sicher ist, wissen wir noch weniger.
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Bei metallverarbeitenden Betrieben werden Kühlschmiermittel verwendet. Die MAK-Liste der gesundheitsgefährdenden Arbeitsstoffe nennt 47 Substanzen. Diese sind teilweise toxisch. Die MAK-Kommission gibt aber keine konkrete Bewertung
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Die Trockner für die Holzspäne für die Herstellung von Spanplatten emittieren organische Substanzen im Grammbereich. Der generelle Grenzwert der TA-Luft - der für Trommeltrockner aufgehoben ist - beträgt 150 mg. Vom Institut für Holzforschung wurde lange Zeit ein Emissionswert unterhalb 100 mg/m³ angegeben. Manche ätherische Öle sind starke Allergene. Auf einer Erörterung konnte Einigkeit darüber hergestellt werden, dass auch in diesem Falle das Minimierungsgebot gelten sollte.
Kurz gesagt, unser Wissen über Emissionen ist sehr eng begrenzt. So ist es kein Wunder, dass die Meinungen hier auseinandergehen. Oft zeihen sich die Kontrahenten der Irrationalität - Panikmache kontra Beschönigung. Sie haben beide recht: zu diskutieren, ohne zu wissen worüber, ist tatsächlich nicht rational.
Verständlich ist, dass beim Verursacher kein Aufklärungsbedarf besteht. Die qualitative und quantitative Aufklärung der Emissionen ist weder chemisch noch wirtschaftlich zu aufwendig, als dass die Informationslage nicht drastisch verbessert werden könnte. Dies geschieht aber nur dann, wenn eine Substanz oder Substanzgruppe politische oder juristische Bedeutung erringt. Solange ein Hinweis auf ihre Existenz und toxische Potenz lediglich ein Gebot der Vernunft ist, die Forschungsbedarf anzeigt, befinden wir uns auf dem Gebiet des Restrisikos, welches grundsätzlich hinzunehmen ist. Eine vernünftige Entwicklung bei der chemischen und toxikologischen Aufklärung der Emissionen ist in unserem Rechtssystem nicht vorgesehen.
Ausbreitung
Die Ausbreitungsrechnung nach dem Anhang C der TA-Luft ist allein verwaltungsrechtlich anerkannt. Seit 1988 ist bekannt, dass sich nirgends auf der Welt Schadstoffe so ausbreiten, wie dies die TA-Luft rechnet. Sie berücksichtigt keine Inversionswetterlagen, keine Kaltluftabflüsse von Hängen, die nachts Schadstoffe rezyklieren können, keine Turbulenzzustände in der Atmosphäre, unterschätzt geringe Windgeschwindigkeiten und kann Windstille gar nicht rechnen, so dass die damit errechneten Immissionen je nach Standort um den Faktor 2 - 10 unterschätzt werden. Nordrhein-Westfalen hat dafür die Faktor-10-Regel eingeführt. Sie bedeutet, dass zunächst mit TA-Luft gerechnet wird - schnell und preiswert - und die Ergebnisse dann mit einem Faktor 10 beaufschlagt werden. Ergeben sich so genehmigungsrelevante Immissionen, muss mit einem geeigneten Ausbreitungsmodell gerechnet werden. Bei Fachleuten ist die TA-Luft schon seit 1990 nicht mehr Stand der Technik, wie z.B. auch für den Konstrukteur des Anhanges C der TA, Prof. Manier.
Vergleicht man etwa die Dioxinbodenwerte um alte MVA' n mit Bodenwerten, die sich theoretisch aus der Ausbreitungsrechnung nach TA-Luft ergeben, so liegen diese Bodenbelastungswerte zwischen einem Faktor 20 und einem Faktor 100 höher, als sie laut Ausbreitungsrechnung TA-Luft sein sollten. Berechnet man die Geruchsemissionen von Trommeltrocknern in verschiedenen Standorten, so kann es laut TA-Luft nicht riechen, der Geruch wird aber regelmäßig wahrgenommen. Vergleicht man die Immissionsmesswerte einiger charakteristischer ätherischer Öle aus dem Holz mit den entsprechenden Ergebnissen aus den Ausbreitungsrechnung, so ergeben sich wieder Abweichungen in der Größenordnungen von einem Faktor 20 und weit über 100.
Es gibt verschiedenen Ausbreitungsmodelle für verschiedene Probleme. Kleinräumige Ausbreitungen werden mit anderen Ausbreitungsmodellen gerechnet als großräumige Ausbreitungen; es gibt spezielle Ausbreitungsmodelle für Kaltluftabflüsse usw. usf. Der meteorologische Gutachter muss entscheiden, welches Modell angewendet werden muss. Viel wichtiger als die Auswahl des geeigneten Modells ist die Anwendung des Modells selbst. Man kann durch falsche Anwendung mit sehr teuren Ausbreitungsmodellen letztendlich die gleichen fehlerhaften Ergebnisse wie die TA-Luft erzielen. TÜV-Ecoplan hat gezeigt, dass durch eine gezielt-falsche Anwendung genau die gleichen Ergebnisse produziert werden können.
Aus diesem Grund wurde das sog. Pflichtenheft entwickelt: der meteorologische Gutachter bewertet Gelände, örtliche Windrosen, Inversionswetterdaten etc. und leitet daraus ab, was die Ausbreitungsrechnung berücksichtigen muss. Daraus ergib sich die Empfehlung für die Anwendung bestimmter Ausbreitungsmodelle und der Integration zu einer Gesamtsumme der Immissionen aus den verschiedenen atmosphärischen Bewegungen
Bewertung der Immissionen
Immissions- und Emissionsgrenzwerte
Die große Anzahl aller Richtwerte, z.B. Emissionsgrenzwerte, sind Richtwerte im Sinne der Vorsorge. Sie sind eine Handhabe der Verwaltung für Auflagen gegen das Recht der Betreiber auf Genehmigung. Sie berechtigen nicht zur Klage.
Nur die Immissionsgrenzwerte der TA-Luft sind auch rechtlich ‚Grenzwerte’. Die juristische Definition lautet: Richtwerte im Sinne der Gefahrenabwehr. Rechtliche Grundlage ist der § 5, Abs. 1 BImSchG (Bundesimmissionsschutzgesetz). Nur dessen Verletzungführt zur Berechtigung zur Klage für betroffene Anrainer. Nur sie sind „drittschützend“. Überschreitung der Grenzwerte der TA-Luft haben Konsequenzen, wie etwa Versagung der Genehmigung oder Stillegung. Begrenzt werden: Staub, die vier Säuren HCl (Chlorwasserstoffsäure, Salzsäure), Schwefeldioxid, Stickoxide, HF (Flusssäure, eingeschränkt) Chlor, Kohlenmonoxid und die Schwermetalle Cadmium und Blei. Eine Ausnahme bilden die krebserzeugenden Stoffen. Deren Emissionsgrenzwerte sind drittschützend. Darüber hinaus gilt bei krebserzeugenden Stoffen generell das Minimierungsgebot. Dies bietet der Klägerseite darüber hinaus rechtliche Möglichkeiten.
Der Länderimmissionsschutz (LAI) hat 1990 einen Bericht einer Arbeitsgruppe veröffentlicht mit dem Titel "Bewertung von Schadstoffen, für die keine Emissionswerte festgelegt sind". Hier wird ein innovativer Schritt gemacht. Es wird verlangt,
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die Dosis auf allen Belastungspfaden - ingestiv (Nahrung), inhalativ (über die Lunge und die Aorta direkt ins zentrale Nervensystem) und dermal (gespeichert in den Textilien, über die Haut aufgenommen) – zu errechnen
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Wirkschwellenwerte für die einzelnen Pfade zur Bewertung heranzuziehen. Es ist für viele Stoffe seit Jahrzehnten bekannt, dass sie inhalativ aufgenommen stärker wirken, dermal aufgenommen gespeichert werden können etc.
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stets die niedrigste Wirkschwellenwerte in Ansatz zu bringen, sofern in der Literatur unterschiedliche zu finden sind.
Keine Genehmigung oder ‚antizipierende Vorschrift’ wurde je auf der Basis dieser Vorschriften erstellt. Verwaltung und Gerichte interessierten sich lediglich für die Definition der Bagatellschwelle: Zusatzbelastung < 1% der Wirkschwelle. Mehrfach wurde diese errechnet, ohne jene drei essentiellen Punkte zu beachten. Die Vorschrift zeigt sehr deutlich, wo die Mängel der TA liegen und wie sie zu beheben sind. Sie demonstriert die Überholtheit der TA überdeutlich.
Bodenschutz, Nahrungskette, etc.
In der TA-Luft wird der Niederschlag von Staub, Blei, Cadmium und Thallium begrenzt. Der Pflanzenschutz wird repräsentiert durch die Begrenzung von Fluorwasserstoffsäure (HF).
In der TA-Luft wird der Mensch gegenüber der Akkumulation der Schadstoffe im Boden und der Nahrungskette nicht geschützt. In einigen Verfahren um Verbrennungsanlagen in den 80er und 90er Jahren wurden auch Bodengutachten erstellt. Allerdings ohne Konsequenz, auch nicht in einem Fall mit hoher Cadmiumvorbelastung. Der Sachverständigenrat für Umweltschutz veröffentlichte ein Berechnungsmodell für den Dioxineintrag in die Nahrungskette. Die damit errechnete Überschreitung der Bagatellschwelle des LAI bei Müllverbrennungsanlagen hatte ebenfalls keine Konsequenzen.
Rechte der Anrainer
Die Anrainer haben nur im Falle der Gefahrenabwehr Klagerechte. Gesundheitsgefährdung ist immer der Gefahrenabwehr zugeordnet. Dabei genügt – zumindest theoretisch – die abstrakte Möglichkeit. Rechtlich eindeutig ist diese aber nur bei Überschreitung der Immissionsgrenzwerte der TA-Luft gegeben oder bei Emissionen krebserzeugender Stoffe über den Stand der Technik hinaus.
Es ist ganz offensichtlich, dass hier im Laufe der Jahre eine große Lücke zwischen Theorie und Praxis entstanden ist.
Eine gute Gelegenheit, diese Dinge Punkt für Punkt darzulegen, sind die Erörterungen bei Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligungen. Die Einwender haben das Recht, alle diese Punkte zu erörtern. In einem Fall ist es vorgekommen, dass die Presse die Einwenderseite zunächst als "Ökospinner" tituliert hat und nach Ende der Erörterung von "Ökoexperten" sprach.
Zum der Nachweis des Verstoßes gegen § 5, Abs. 1 BImSchG, Gefahrenabwehr, bedarf es der Zusammenschau aller Daten, die für den Anlagentyp und den Standort zur Verfügung stehen. Diese sind in aller Regel unvollständig. Dennoch gelingt es unter Heranziehung wissenschaftlicher Veröffentlichungen die Mängel aufzuzeigen und quantitativ abzuschätzen, welche Ergebnisänderung die Beseitigung der Datenmängel haben. Das Büro für Technikfolgeabschätzung beim Deutschen Bundestag vermerkt in seinem Manuskript mit dem Titel "Umwelt & Gesundheit", dass erstaunlicherweise die Aussagen von Experten zum gleichen Problem der Risikobewertung um Zehnerpotenzen auseinander liegen. Diese Diskrepanzen kann man in der Regel Zehnerpotenz für Zehnerpotenz solchen Mängeln zuordnen.
Fazit nach zwanzigjähriger Erfahrung in Verwaltungsverfahren
Die Klagen von Bürgern gegen bestimmte Großemittenten in den 80er und 90er Jahren konnten einiges erreichen:
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Die Überkapazitäten von Müllverbrennungsanlagen wäre heute sicher größer, allerdings wurden Projektaufgaben immer schon im Vorfeld der Genehmigung erreicht.
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Neue Vorsorgewerte bei 20% der Emissionswerte der 17. BImSchV für die Altholzverbrennung.
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Deutliche Unterschreitung der Emissionen von Müllverbrennungsanlagen unter die vorgeschriebenen Werte durch die 17. BImSchV.
Überhaupt erhöhen mögliche Klagen oder gar möglicherweise erfolgreiche Klagen die Motivation der Behörden, aktiv zu werden. Die Erlassung von Verordnungen sind sicher auch im Zusammen mit solchen Aktivitäten privater Vereinigungen zu sehen.
Doch die Bewertung von Gesundheitsgefahren wird nach wie vor von einer im Kern fast 30 Jahre alten Verwaltungsvorschrift beherrscht. Diese 30-Jahreslücke findet sich bei vielen Bewertungen von Gesundheitsgefahren. Sie ist der wichtigste Grund für die steigende Zahl von chronischen Erkrankungen.