Gutachter
Unrecht
Betrachtet man die Bandbreite der sozialgerichtlichen Urteile zu krankheitsbedingter Frühverrentung, so wird unübersehbar mit zweierlei Maß gemessen. Wer durch den Kontakt mit Substanzen erkrankt ist, hat viel höhere Hürden zu nehmen bei der Nachweisführung. Genügt bei einer chronischen Erkrankung schon ein ordentliches ärztliches Attest, wird bei chronischen Intoxikationen ein langanhaltender Gutachterstreit geführt.
Bei Rente geht es immer um Simulantentum. Wie etwa sind chronische Kopfschmerzen zu objektivieren? Medizinisch geht es nicht und das Gericht wird letztendlich bei wöchentlichen Krankschreibungen einer Frühverrentung zustimmen. Andererseits ist eine toxische Enzephalopathie oder die chemische Sensitivität objektivierbar und es kommt regelmäßig vor, dass ein Gutachter obsiegt, der sich mit den Fakten gar nicht befasst, sondern das Ganze unwissenschaftlich und weltanschaulich nennt.
Dass dieses zweierlei Maß existiert, ist sicherlich ungerecht. Dafür sind die Gerichte aber nicht zuständig. Recht bekommen wird man nur dann, wenn alle Prozessbeteiligten akribisch den Nachweis führen und keine strategischen Fehler gemacht werden.
Gutachter
haben sich an den Stand der Wissenschaft zu halten. Gemeint ist, der anerkannte Stand gesicherten wissenschaftlichen Wissens, die neueste Diskussion ist rechtlich nicht relevant. Ein solches Wissen kann Jahrzehnte veraltet sein. Es gibt keinen schlimmeren strategischen Fehler, als in einer solchen Situation mit neueren Veröffentlichungen daherzukommen. Denn schon diese formale Tatsache beweist, dass hier noch diskutiert wird. Indem man diskutiert, was längst geklärt ist, trägt man selbst dazu bei, den Stand der Wissenschaft zu revidieren. In den genannten gutachterlichen Auseinandersetzungen wird aber gerade diese Diskussion geführt.
Die oben beschriebene eklatante Situation hat ihren Grund darin, dass das wissenschaftliche Wissen über jene Verletzungen des Organismus die Allgemeinheit noch nicht erreicht hat. Bei den Juristen ist die allgemeine Lebenserfahrung ein Maß für Glaubhaftigkeit. Dies wird genutzt. In den Verfahren stehen sich zwei Gutachter gegenüber, die einen wollen vom Stand der Wissenschaft nichts wissen und die anderen kennen ihn tatsächlich nicht. In solchen Verfahren, Lebenserfahrung hin oder her, ist der Stand der Wissenschaft entscheidend.
Diesen Fehler machen die um Anerkennung ringenden, einschließlich ihrer gut-achtenden Umweltärzte, praktisch in jedem Verfahren. Sie nutzen den Stand der Wissenschaft nicht. Tatsache ist, dass sie ihn auch nicht kennen. Dies gilt auch für die Patientenorganisationen und für die Anwälte, die sich dieser Verfahren annehmen. Die, die um Anerkennung ringen, machen also das Entscheidende falsch.
Das kleine Einmaleins
Ein weiterer strategischer Fehler ist, dass das juristische Einmaleins nicht beachtet wird. Dieses lautet wie folgt:
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Der Kläger muss die Exposition nachweisen.
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Der Kläger muss den Schadenseintritt nachweisen.
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Für die Frage der Kausalität zwischen Exposition und Schadenseintritt genügt die einfache Wahrscheinlichkeit „Es spricht mehr dafür, als dagegen“.
In der Praxis hat sich aber ein vereinfachtes Verfahren eingespielt. Man beauftragt nur einen Gutachter. In der Regel ist dies ein Arbeitsmediziner, der sich zu allen neuro-logischen, internistischen, toxikologischen und technischen Fragen des Betriebes kompetent äußert. Dies zu akzeptieren, ist der erste schwere Fehler.
Der zweite schwere Fehler, der fast durchgängig gemacht wird, ist, dass die Fragen nicht sauber auseinandergehalten werden. Beispiele:
Ein Expositionsgutachten erübrigt sich nur in seltenen Fällen, etwa bei einem Lackierer, der Rente nach der BK 1317 begehrt. In der Praxis werden aber vielfach Verfahren angestrengt und scheitern bereits in Stufe 1 – etwa wenn die Buchhalterin einer Druckerei einen Antrag nach BK 1317 stellt - ohne dass zur Exposition vorgetragen wird. In fast allen Fällen wird die Schadensfeststellung heillos mit der Kausalität vermengt. In einem extremen Fall wurde die Erkrankung verneint mit der Begründung, die Schadstoffe könnten diese Wirkung nicht haben. Wenn es um die Frage geht, ob die betroffene Person arbeiten kann oder nicht, spielt die Ursache keine Rolle. Das Gericht hat das nicht gemerkt. Mit anderen Worten, hier werden schwere körperliche Schäden ignoriert und die Frage nach der Kausalität vorweggenommen. Dies ist einer der Gründe, warum Kausalitätsgutachten, die den Namen wirklich verdienen, in diesen Verfahren äußerst selten sind.
Bei solchen Fehlern kommt es dann dazu, dass richtige Antworten deshalb nicht in eine Urteil eingehen, weil sie mit der falschen Frage verknüpft werden.
Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass derartige Verwirrung mit Fleiß und taktischem Geschick absichtlich in Szene gesetzt werden (s. Fälschungen und Desinformation). Das hat bis heute immer funktioniert, denn es hat an Gegenwehr gemangelt.
Der naturwissenschaftliche Gutachter
Gutachten werden von Juristen zunächst einmal nach der äußeren Erscheinungsform, d.h. nach der handwerklichen Ausführung begutachtet. Da ist die Sache eindeutig, die einen können es, die anderen können es definitiv nicht. Deswegen wird ersteren geglaubt. Das sind die Arbeitsmediziner. Es nutzt nichts, wenn man sich darüber er-regt, dass der medizinische Inhalt, gelinde gesagt, dürftig ist, wenn man dies nicht in der gleichen Ausführlichkeit und der gleichen Laienverständlichkeit darlegt. Es darf angefügt werden, es lohnt sich tatsächlich. Der Gutachter ist gehalten, alles zu bele-gen. Ein Gutachten ohne Quellenangaben ist juristisch streng genommen gar kein Gutachten. Der tödlichste Fehler aber ist, die Forderung nach strikter Nachvollziehbar-keit zu missachten. Man muss eben darlegen, was es bedeutet, dass ein Rechts-händer etwa in der rechten Hand weniger Kraft hat als in der linken und dies auch noch unterdurchschnittlich. Und schließlich darf nicht verkannt werden, dass Ausführ-lichkeit in aller Regel der Nachweis für die Gründlichkeit der Untersuchung ist.
Die Orientierung am Stand der Wissenschaft muss deutlich werden. Denn dies ist der Dreh- und Angelpunkt, durch den sich der gründliche, kompetente Umweltmediziner durchsetzen kann. Zunächst muss der Stand der Wissenschaft benannt werden. Dann müssen sein Kategorien vollständig aufgezählt werden, etwa Diagnosekriterien, und schließlich Kriterium für Kriterium der Befund und ggf. die Vorbefunde der Kollegen anhand der Krankheitsdefinition erläutert werden. Geschieht dies, und das ist in 90% der Fälle möglich, ist die Diagnose nicht mehr zu erschüttern.
Für einen Arzt in der Praxis ist das nicht leistbar. Er hat es auch in aller Regel mit Prozessgegnern zu tun,, die nur Gutachten machen. Ein professionelles Ghost-Writing muss dringend organisiert werden.
Der juristische Gutachter
Schriftsatz oder juristisches Gutachten muss in solchen Verfahren auf die Qualität der unterschiedlichen Gutachter eingehen. Da lohnt es sich die Frage zu stellen, ob denn ein Arbeitsmediziner per se sich zu allen Spezialfragen, etwa der Neurologie, der Immunologie, der Inneren Medizin, einschließlich untergeordneter Spezialdisziplinen äußern kann. Die Gegenseite fordert ja immer mit aller Aggressivität und ohne sachliche Begründung den Arbeitsmediziner.
Die Themen sind immer komplex, in dem Sinne dass sie mehrere Fachdisziplinen involvieren. Die Klagestrategie sollte folglich sein, unangreifbare Fachbeiträge zu präsentieren.
Ähnliches gilt für die Belege. Es sollte immer geprüft werden, ob die entscheidenden Quellen, etwa der WHO, die eine Festlegung des Standes der Wissenschaft markieren, genannt werden oder nicht. Es sollte auch geprüft werden, ob sich das Gutachten dann auch tatsächlich darauf bezieht. Manchmal ist es auch ganz erkenntnisfördernd, auf das Alter der angegebenen Referenzen zu achten.
In Kommentaren zu Gutachten ist zu finden, dass der Gutachter in den Punkten, die strittig sind, besonders ausführlich darlegen muss, warum er eine andere Entscheidung getroffen hat als der Kollege. Gerade hier muss er ausführlich und nachvollziehbar sein und jeden Schritt der Deduktion belegen können. Gerade das findet nicht statt. Diese Vorschrift wird mit Fleiß missachtet. Denn gerade in diesen Punkten findet man nicht belegte Generalthesen, die durchweg frei erfunden sind. So sind diese Gutachten auch formal angreifbar. Aber diese Möglichkeit wird nicht genutzt. Eigentlich sollte es genügen, die juristischen Maßstäbe für ein Gutachten hier streng anzulegen, um diese Form der Desinformation in den Verfahren scheitern zu lassen. Aber genau dies findet nicht statt.
Für bestimmte Verfahren ist es auch notwendig, den Begriff der Gefahrenabwehr zu klären. Nach den Quellen des Autors ist dies expressis verbis nur im niedersächsischen Polizeirecht definiert worden. Diese Begriffsklärung ist deshalb so wichtig, weil sonst schwere Rechtsfehler vorkommen können. Beispiel:
In einem Zivilverfahren konnte der Gerichtsgutachter dazu gebracht werden einzugestehen, dass eine Kausalität möglich sei – „Kann sein oder kann nicht sein“. Der Senat hat dies so interpretiert, dass ein Nachweis der Schädigung nicht geführt werden kann. Dies missachtet die Verfassung. Wenn der Gutachter die Kausalität nicht ausschließen kann, muss der Schutz der Gesundheit Vorrang haben. Eine solche Situation markiert nicht nur eine abstrakte, sondern bereits eine konkrete Gefahr. In diesem Falle wurde aber eine höchstrichterliche Vorgabe herangezogen, wonach die Schädigung erheblich sein müsse. Ein ziehendes Fenster wäre als eine solche erhebliche Beeinträchtigung akzeptiert worden, Augenreizungen durch Chemikalien aber nicht. Hier ist wieder jenes andere Maß wirksam. Es hätte aber dem Gericht klargemacht werden müssen, dass im Sinne einer konkreten Gefahrenabwehr den erkrankten Personen ein weiterer Aufenthalt in den Räumen nicht zugemutet werden kann. Dazu muss ihm klar gemacht werden, dass die Nichtbeachtung der Begrifflichkeit der Gefahrenabwehr ein schwerer Rechtsfehler ist.
Was ist ein Gutachten?
Gutachten ist immer Bewertung. Welche Kapriolen möglich sind, um Bewertung überhaupt zu unterbinden, insbesondere dann, wenn die Fakten nur eine Interpretation zulassen, zeigt folgender Vorgang:
Nach fast zweijähriger Diskussion um Raumluft-Messwerte in einer Schule wurde im Auftrag der GEW das erste toxikologische Gutachten vorgelegt. Fast zwei Jahre wurde gemessen, gestritten, wieder gemessen und wieder gestritten über naheliegende, aber falsche Thesen und über Abwegiges, ohne dass einer nach einer Bewertung der Messwerte gefragt hätte. Da die Grenzwerte überschritten waren und die gesundheitlichen Beschwerden der WHO-Definition des Sick-Building-Syndroms entsprachen, musste das Gutachten eindeutig ausfallen. Es hat aber nie seine rechtliche Wirkung entfaltet, denn die Verwaltung hat so argumentiert, da der Gutachter keine eigene Messungen durchgeführt habe, kann er nichts mitzuteilen haben und deshalb sei das Gutachten nicht zu beachten. Dies war durchsetzungsfähig. Hier rächt sich, wenn die Betroffenen selbst kein Interesse für die Sach-aufklärung und seine entscheidenden Details aufbringen. Auffällig war in diesem Zusammenhang, dass nur über Personen gesprochen wurde.
Mit anderen Worten, es ist notwendig und es lohnt sich, Detailfragen, wie: „Was ist ein chemischer Messwert? Was ist ein toxikologischer Orientierungswert?“ in der öffentlichen Debatte zu thematisieren.
Das Beispiel zeigt, dass die Situation so weit gediehen ist, dass man jeden Unfug zur Diskussion bringen kann.
Wie unter Desinformation dargestellt, wurde mit dieser Ausrede der Schritt von der Sachaufklärung in den Raum der freien Phantasie vollzogen. Wenn man die Diskussion akzeptiert, hat man schon verloren. Der Weg zurück ist dann sehr aufwändig. Man muss dann vom augenfälligsten Detail zum nächsten Detail fortschreitend die Zusammenhänge so zwingend restaurieren, dass es gelingt, an den bereits betonierten Vorurteilen doch noch zu rütteln.
Es ist kein Wunder, dass die öffentliche Debatte nicht vorankommt, wenn, wie dies die meisten Journalisten auffassen, hier ein Gutachterstreit existiere, dessen Ergebnis man erst einmal abwarten müsse. Sie merken nicht, dass sie auf die Rolle genommen werden, weil sie Meinung gegen Meinung, Stellungnahme gegen Stellungnahme abgleichen und selbst kein Detail zur Kenntnis nehmen. Manchmal tun das auch Gerichte. Doch vor Gericht gelten strengere Regeln, vorausgesetzt, die benachteiligte Partei fordert die Beachtung der Regeln auch ein.
Prozessstrategien
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